Straßenfotos und andere Blickfunde

[ Galerie des Kulturvereins Unteren Hardthof, Gießen ]

Claus Leggewie

 

Kleine Freundesrede zur Vernissage

 

Reimunds gut und genau gewählter Ausstellungstitel, das Kompositum „Lichtnotizen“, verbindet zweierlei: die Notwendigkeit einer (und sei es noch so schwachen) Lichtquelle für die Herstellung einer Photographie (im Altgriechischen: „Schreiben mit Licht“) und ihre Notizfunktion, also die Aufzeichnung einer Erinnerung. Die Fotografie hat die Menschen im 19. Jahrhundert in den Bann geschlagen, bisweilen auch in Furcht versetzt, weil sie etwas Gesehenes fest-halten konnte wie der Schreibblock einen Gedanken. Das hatte die Malerei auch schon getan, aber hier war der Auf-Zeichner kein bildender Künstler mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln der visuellen Fantasie, sondern jemand, der einen technischen Apparat bediente und einer, der einen Moment im Fluss der Zeit durch Knopfdruck auf eine Platte bannte und diesen Moment tendenziell unendlich reproduzierbar machte. Es ist enorm, welche Erweiterung die menschlichen Fähigkeiten mit der Fotografie, aber auch mit der parallel entwickelten Aufnahme von Tönen erfahren hat.

Die seither perfektionierte Fähigkeit, Lichtnotizen zu produzieren und sie für sich und andere zu reproduzieren, kommt einem tiefen menschlichen Bedürfnis entgegen, das Vergangene nicht, jedenfalls nicht ganz vergehen zu lassen. Wer heute durch die Innenstädte wandert oder an entlegenste Orte kommt, wird in der Regel einem oder gleich Hunderten begegnen, die mit der Fixierung von Gesehenem und Geschehenem beschäftigt sind und das Gegenwärtige schon auf ein Motiv, einen Ausschnitt, eine Erinnerung abtasten, das sie festhalten werden – oft mit dem eigentlich nicht wünschbaren Ergebnis, dass sie die Dinge um sich herum nur noch ausschnitthaft scannen.

Bei Reimund habe ich dieses seltsame Verhalten nicht beobachtet, im Gegenteil. Wenn er bei unseren Wanderungen die Kamera dabeihat, ist sie ein ganz unauffälliger Begleiter und sein Fotografieren – er tritt kurz zur Seite oder bleibt ein Stück zurück – führt bei mir dazu, dass ich mir etwas, was ich womöglich übersehen hätte, auch noch einmal genauer anschaue. Es freut mich, dann seinen Anschnitt in den Foto-Reportagen zu sehen, die er in der Regel nach der Wanderung herumschickt, inklusive des obligatorischen Gruppenfotos, auf denen eine Gang in wechselnder Zusammensetzung in seine Kamera blickt. Legte man die Fotos  aneinander, könnte man ihr beim Älterwerden zuschauen.

Den Wanderfreunden bietet Reimunds notorischer Begleiter die Möglichkeit, sich an kostbare Stunden zu erinnern. Und genau darin besteht ja die Rolle, die der Fotografie als dokumentarisches Aufzeichnungsmedium im Lauf der Jahrzehnte seit den Brüdern Lumière oder Eugène Atget oder Henri Cartier-Bresson zugefallen ist. Die Fotografie ist ein Medium, das uns das Vergehen der Zeit auf andere Weise deutlich macht als eine tickende Uhr. Was das Foto festhält, wird augenblicklich (wie reden von Hundertstel Sekunden) in die Vergangenheit befördert, aber genau damit der Vergänglichkeit ein Stück entrissen. Auf diese Weise wurde Fotografie von einer Memorialtechnik zur Kunst, und sie gestattet es, ganz unabhängig vom er-blickten Material, Emotionen zu schaffen und noch nie Gesehenes zu erzeugen, wie das einmal die bildende Kunst getan hat und weiter tut, auch indem sich Malerei und Fotografie wieder verbinden.

Es gibt in der Ausstellung drei Exponate „Licht und Form“, aber auch die Buntbilder von der Zeche Zollverein und aus anderen Industriebrachen,  oder auch „Rot vor Zaun“, die diesen Konnex am deutlichsten machen. Das Gros der hier ausgestellten Fotos stammt aus Reisen und Exkursionen, die Reimund in den letzten Jahren gemacht hat: Kuba, New York City, Prag, Indochina, London – Bilder, die das, was man dort im Vorübergehen oder bei längerer Betrachtung sehen kann, festhalten, aber jenseits der bekannten Stereotypen, weil sie etwas an sich haben, was nach den Worten des französischen Philosophen und Theoretikers der Fotografie, Roland Barthes zu vielen Fotos gehört: neben dem studium auch ein punctum. Mit diesen beiden Begriffen charakterisiert er in seinem Buch „Die helle Kammer“ zwei kontrapunktische oder komplementäre Wirkungsweisen der Photographie: „Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen.“ Das punctum ist nicht die allgemeine Botschaft eines Bildes, sondern das Element, das seine sinnliche Wirkung auf den Betrachter bewirkt, das kaum oder nicht Sagbare, das Atopische.  „Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das bedeutet auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“

Auf vielen Fotografien Reimunds entdeckt man beides – was  er uns von der Welt mitteilt und was uns an dem, was er davon dokumentiert, besticht. Einige stammen aus Orten, an denen Reimund – er schreibt: im wirklichen Leben, aber was soll das schon sein? – arbeitet oder auf dem Weg zur Arbeit ist: Halle an der Saale, Kassel-Wilhelmshöhe, Bonn, Berlin. Auch von dort, wo die Kamera anscheinend immer im Gepäck ist, kommen Lichtzeichen aus dem Alltag und die Wahrnehmung visueller Strukturen – ein Schattenspiel aus de Haan, ein Betonschatten vom Arbeitsplatz, einem übrigens sehr gelungenen Universitätsneubau.

Das führt uns zu der Frage, nicht wie man als Jurist Fotograf sein kann, sondern was die Rechtssprechungslehre eventuell mit der Lichtzeichnerei gemeinsam haben könnte oder wie man sich mit der Auseinandersetzung beider eine ausbalancierte oder sich wechselseitig irritierende Weltwahrnehmung schaffen kann. Ich bin dabei erst einmal nur zu der Antwort gekommen, dass Reimund die Genauigkeit liebt, die Präzision der Fallbeschreibung ebenso wie des Hinschauens, bevor die scharfe Subsumtion und der Druck auf den Auslöser folgen. Und eine Jurisprudenz, die nicht mehr hinschaut, ist keine besonders gute.

Apropos Blick: Das Coverfoto der Blickfunde dieser Ausstellung, die vierköpfige Scooter-Familie aus Hanoi, wirft den berühmten „Blick zurück aus dem Bild“, der kunsthistorisch besonders seit Courbet und Manet bedeutsam ist und ebenso für die Phänomenologie der Fotografie. Auch wenn diese zunächst ein voyeuristisches Medium ist – wir schauen anderen zu, und Reimund hat im Verlauf der Jahre gelernt, „ranzugehen“ und „draufzuhalten“, also Gegenblicke zu provozieren -, so ist es vielen abgelichteten Personen eigen, dass sie zurückschauen und eben dieser Gegen-Blick den Betrachter fasziniert, anzieht oder abstößt, irritiert, die Person dabei ein Stück plastischer und lebendig werden lässt. Den Scooter sieht und hört man fast vorbeirauschen, der Blick der Frau ist auf den Fotografen gerichtet – einer von Reimunds bevorzugten Augenblicks-Schüssen. In die Malerei eingeführt hat den „Blick aus dem Bild“ vor allem Édouard Manet. Die Ansprache des Betrachters geht von den Personen in den Bildern selbst aus, wenn sie sich dem Betrachter nicht nur frontal zuwenden, sondern ihn auch direkt anschauen. Dem Blick kann sich der Betrachter des Exponats kaum entziehen, er muss Stellung beziehen, für oder gegen das Bild. Das ist der doppelte Blick, der gemalten bzw. fotografierte Blick und zugleich das Betrachten der Gemälde bzw. des Fotos, also das Sehen im Bild und das Sehen des Bildes – und auf die Folgen, wenn beides aufeinandertrifft.

Wir sind stolz, am Hardthof einen solchen Fotokünstler unter uns zu haben, der jetzt verstärkt und mit dem ihm eigenen Understatement an die Öffentlichkeit tritt. Reimund fotografiert analog schon seit seiner Jugend. Die erste Kamera war mit zwölf, dreizehn Jahren keine Agfa Klick, sondern die Voigtländer des Vaters, eines gelernten Optikers, der auch die Grundbegriffe des Fotografierens – blende, Tiefenschärfe etc. – weitergab und für die Entwicklung der Rollfilme seine Dunkelkammer zur Verfügung stellte. Mit 16, 17 kam eine Spiegelreflexkamera aus dem Praktikerkasten ins Haus, als Student leistete sich Reimund eine Canon A1. Der Autodidakt hat die Motive auf sich zukommen lassen – den alten Pflug, den jemand auf einem Feld stehen lassen hat und der da eigentlich nicht hingehört. Oder die abstrakte Struktur, die ein Motiv freigibt, oder Momente einer sozialen Bewegung, etwa von einer Friedensdemo der 1980er Jahre.

Reimund hat sich „nach Pausen, in denen das Leben andere Prioritäten setzte“, seit 2007 wieder ernsthafter der – nun digitalen – Fotografie zugewandt. Sechs Jahre hat es gedauert, bis er 2013 mit einer eigenen Homepage an die Öffentlichkeit getreten ist (sdc-foto: www.rsdc-eu), mittlerweile sind aktuelle Arbeiten u.a. auf  www.flickr.com/photos/sdc-foto und 500px.com/sdc-foto im Netz zu sehen. Ende 2015 erschien der Bildband „100 Momente Leben – Straßenfotografie“ im Eigenverlag, auch gab es eine erste Gießener Ausstellung „Der Blick der Dinge“ in den Räumen der Anwaltskanzlei Wack, die Mut machte für dieses größere Projekt hier. Gerne kommt Reimund heute auf ältere Sachen zurück, Fotografien, die vor Jahren entstanden sind und noch Prägnanz besitzen. Auf seine Entwicklung befragt, meint er, dass seine Bilder ein Stück inszenierter geworden sind, aber immer noch auf den Zufall vertrauen, keine Programmfotografie. Nächste Pläne gibt es schon, beispielsweise die Gegenüberstellung von Londoner Straßenszenen mit Street Art in London.

Lieber Reimund, wir wünschen Dir weiterhin Scharfsinn und Scharfblick, gute Motive und eine ruhige Hand!!

Ankündigung in der Gießener Allgemeinen Zeitung >>> GAZ  und Übersicht über die ausgestellten Fotografien >>> Katalog

Blick in die Ausstellung